Wie die Präzisionswerkzeugindustrie die Nachhaltigkeit vorantreibt

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Praxis und Produkte Von  Maxime Mader veröffentlicht am  25/10/2024
Wie die Präzisionswerkzeugindustrie die Nachhaltigkeit vorantreibt
Die FRAISA ReTool® Werkzeuge sind zu 100 Prozent einsetzbar wie Neuwerkzeuge. FRAISA

Die Branche setzt auf Nachhaltigkeit. Mit welchen Ansätzen Hersteller und Abnehmer künftig noch klimaneutraler arbeiten können, zeigen Hersteller und VDMA auf der diesjährigen AMB in Stuttgart.

Die Rohstoffabhängigkeit, die zunehmend geforderte Senkung des Energieverbrauchs oder die Ausweitung der CSR-Berichtspflichten fordern die Branche heraus, neue Lösungen für eine noch wirtschaftlichere und nachhaltigere Fertigung zu entwickeln. Ansatzpunkte gibt es viele: Von einer einheitlichen Methode zur Berechnung des CO2-Fußabdrucks, über die Rücknahme von Werkzeugen und das Verpackungsrecycling bis hin zur Verlängerung der Lebensdauer von Hartmetallwerkzeugen. Auf der AMB in Stuttgart können Fachinteressierte Einblicke in verschiedene Nachhaltigkeitsinitiativen der Branche gewinnen.

CO2-Fußabdruck von Werkzeugen vergleichbar machen

Viele Abnehmer wünschen sich eine echte Vergleichbarkeit des CO2-Fußbdrucks von Werkzeugen unterschiedlicher Hersteller. Deshalb haben Anbieter von Zerspanungswerkzeugen im VDMA Präzisionswerkzeuge einen Arbeitskreis mit dem Ziel gegründet, eine brancheneinheitliche Berechnungsmethode für den CO2-Fußabdruck der Werkzeuge zu etablieren. „So muss nicht jedes Unternehmen eigene Lösungen finden und die Kunden müssen nicht mehr Äpfel mit Birnen vergleichen“, führt Melissa Albeck, Vorstandsmitglied bei Ceratizit und Mitglied des VDMA-Fachverbands, aus. Ein großer Vorteil für die rund 20 Mitstreiter des Arbeitskreises: Sie können sich bereits existierende Standards und Informationen zunutze machen und darauf aufbauen. Dazu zählt unter anderem die Berechnungsmethode für den Product Carbon Footprint (PCF) von Hartmetallprodukten.

Alle profitieren – der Kunde, der Hersteller, die Umwelt. Gühring

Bei der Entwicklung des künftigen Standards nehmen die Beteiligten den gesamten Lebenszyklus der Werkzeuge in den Blick. Dabei betrachten sie auch die eingesetzten Rohstoffe und ihre Verarbeitung. Dr. Thomas Wittig, CEO der Fraisa GmbH und Mitglied im VDMA-Arbeitskreis, sagt aus Erfahrung: „Wir erleben, dass die Umweltauswirkung mittlerweile sehr zentral für die Kaufentscheidung ist.“ Deshalb wird das Unternehmen auf der AMB 2024 auch seine nachhaltigen Dienstleistungen der ReTool®Services Produktfamilie präsentieren. Auch Ceratizit wird sich auf der AMB dem Thema Nachhaltigkeit widmen und die ProAct-Mill-Produktlinie vorstellen. Die für die Vollhartmetall-Fräser verwendete Hartmetallsorte verzeichnet durch den Einsatz eines speziell wiederaufbereiteten upGRADE-Pulvers auch einen besonders niedrigen CO2-Fußabdruck. Das für die Fräswerkzeuge genutzte Wolframkarbid-Pulver weist gerade mal einen PCF von 0,7 Kilogramm Kohlenstoffdioxid-Äquivalent pro Kilogramm Pulver auf – eine Reduktion von über 94 Prozent verglichen mit einem konventionellen Pulver. Mit Blick auf die AMB sind beide Arbeitskreismitglieder überzeugt, dass das Druckmanuskript für den neuen Standard bereits als Entwurf VDMA 35111 veröffentlicht sein wird.

Umweltbilanz durch Wiederverwertung verbessern

Auch bei der Rücknahme von Werkzeugen steht der Rohstoff – und hier besonders das wertvolle Wolfram im Fokus. Denn die Abhängigkeit von China mit den größten Wolframvorkommen gilt es so weit wie möglich zu verringern. Daher setzen Hartmetallhersteller seit Jahrzehnten darauf, den Rohstoff in der Branche zu behalten. Boehlerit etwa bietet ein Recyclingprogramm, das Energie einspart und die Luft- und Wasserverschmutzung reduziert. „Vor allem wollen wir die Verfügbarkeit von Wolfram auf lange Sicht sichern“, sagt Christian Kolbeck, Leitung Segment Verschleißschutz & Werkzeughersteller bei Boehlerit. Heute erreichen Werkzeuge aus Hartmetall bereits eine Recyclingquote von 55  Prozent – Boehlerit will diese erhöhen und plant, in diesem Jahr deutlich über 100 Tonnen Hartmetallschrott zurückzunehmen und für eigene Produkte zu nutzen. Dabei setzt der Hersteller auch auf direktes Recycling mit Zink, was eine deutliche Energieersparnis gegenüber dem chemischen Prozess mit sich bringt. Der CO2-Ausstoß tendiert hierbei gegen Null. „Je mehr wir recyceln, desto besser haben wir auch den Preis im Griff und müssen nicht importieren“, betont Kolbeck. Gühring geht noch einen Schritt weiter und hat ein Inhouse-Recycling etabliert. Ganze 500 Tonnen wertvollen Hartmetallschrott will der Hersteller pro Jahr zurückholen und hat hierfür ein Bonussystem für die Kunden entwickelt. „Wir binden den Kunden vom Neuwerkzeug bis zum Hartmetallschrott in den Kreislauf ein“, erklärt Stefan Heinz, Leiter Marketing bei Gühring. Der Prozess umfasst die Abnahme des Werkzeugs, das Nachschleifen, die logistische Abwicklung bis hin zur Rücknahme des Hartmetallwertstoffs. „Auf diese Weise nutzen wir den Rohstoff maximal, alle senken den CO2-Fußabdruck und der Kunde kauft günstiger ein“, sagt Heinz. Auf der AMB 2024 wird das Unternehmen das Bonussystem vorstellen.

Diese Verpackung besteht zu 100 Prozent aus Rezyklat. MAPAL

Verpackungsrecycling ins Leben rufen

Ein noch sehr junges Projekt widmet sich dem Recycling hochwertiger Kunststoffverpackungen. Ziel ist es, eine Strategie für ein Kreislaufsystem ins Leben zu rufen. Seit Oktober 2023 engagieren sich zehn Unternehmen in dem eigens dafür gegründeten VDMA-Arbeitskreis, darunter auch der Verpackungshersteller Rose Plastic. Aktuell existiert keine systematische Rückführung der Werkzeugverpackungen. Zudem ist das Recycling bisher wirtschaftlich unattraktiv. Einheitliche Entsorgungssysteme fehlen. „Ein Kreislaufsystem würde jedoch den CO2-Fußabdruck der Kunden erheblich reduzieren“, sagt Bernt Ritz, Projektleiter und Referent für Technik und Normung im VDMA. Dieter Herbert, Prozessplaner Logistik bei Mapal und Mitglied im Arbeitskreis, schließt an: „Die enorme PCF-Absenkung schafft einen Anreiz für die Kunden, sich an diesem Kreislauf zu beteiligen.“

Bislang fehlen jedoch die Akzeptanz entlang der Wertschöpfungskette und ein effizientes Logistiksystem. Hier gilt es das Bewusstsein dafür schärfen, dass diese Verpackungen aus werthaltigem Kunststoff bestehen und kein Abfall sind. Zu den größten Hürden zählen zudem die hohen Initialkosten, die Komplexität der Verpackungsvielfalt und die Sicherstellung der Materialqualität nach mehrfachem Recycling. „Denkbar wäre eine Art Kreislaufsystem, das die gebrauchten Verpackungen direkt einer weiteren Verwertung zuführt. Dies hilft der Umwelt, stärkt die Kundenbindungen und reduziert auf lange Sicht die Abhängigkeit von neuen Rohstoffen“, blickt Mahmut Dogan, Leiter Materialwirtschaft und Logistik bei FAHRION, einem künftigen Kreislaufsystem entgegen.

Auch FAHRION setzt bereits auf nachhaltiges Verpackungsmaterial. FAHRION

Es gibt auch Kunststoffalternativen: Ingersoll etwa nutzt Pappverpackungen für Fräswerkzeuge bis 4 Kilogramm. „Immer mehr Kunden fordern eine nachhaltige Lösung“, berichtet Stefan Pfordt, Assistent der Geschäftsführung bei Ingersoll. Mittlerweile verpackt das Unternehmen 79 Prozent der produzierten Standardwerkzeuge in Pappe.

Reprocessing – Lebensdauer von Werkzeugen verlängern

Die enormen Preise für Rohstoffe und hohe Energiekosten bei der Herstellung machen es künftig – vor allem für KMU – unumgänglich, die Nutzungsdauer von Hartmetallwerkzeugen zu verlängern. Daher widmet sich ein Forschungsprojekt der Wiederaufbereitung von Präzisionsbohrwerkzeugen. Im Fokus steht die Schneidkantenmikrogestaltung bei der auch verschiedene Be- und Entschichtungsstrategien berücksichtigt werden. Mit nahezu 20 Industriepartnern erfreut sich das Projekt einer sehr hohen Beteiligung. „Wir haben großes Interesse, uns einzubringen, da unsere Kunden zunehmend die längere Einsatzfähigkeit fordern“, berichtet Dr. Luik, Leiter Forschung und Entwicklung bei der Hartmetall-Werkzeugfabrik Paul Horn und Sprecher für die Industriepartner im Projekt.

Die Folie zur Stabilisierung des Werkzeugs kann mit dem Papiermüll entsorgt werden. Ingersoll Werkzeuge

Noch fehlt jedoch das fundierte Wissen etwa zu Kosten und Nutzen verschiedener Wiederaufbereitungsstrategien, zum Einfluss auf Verschleiß und Standzeit der Werkzeuge sowie zur Bearbeitungsqualität der Werkstücke. Deshalb untersuchen die Projektpartner die Wiederaufbereitung in Bezug auf technologische Aspekte und deren Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Prozessschritten. Von großem Vorteil ist die heterogene Zusammensetzung der Projektgruppe, deren Beteiligte die gesamte Wertschöpfungskette abbilden. Zudem haben viele der Beteiligten schon im Rahmen anderer Projekte erfolgreich zusammengearbeitet. „Auch die Zusammenarbeit mit der GFE Schmalkalden, die sich im Projekt mit der Beschichtungstechnik befasst, hat sich bewährt“, freut sich Prof. Dr. Dirk Biermann, Institutsleiter an der TU Dortmund am Institut für Spanende Fertigung (ISF), über die erneute Kooperation.

Die Projektpartner wollen nach Abschluss der Arbeiten KMU eine Handlungsempfehlung geben, die sie in die Lage versetzen kann, die Wiederaufbereitung im eigenen Unternehmen zu integrieren. „Die Wiederaufbereitung ist viel günstiger und nachhaltiger als Neuwerkzeuge herzustellen“, sagt Dr. Monika Kipp, Abteilungsleiterin Schleiftechnologie am ISF der TU Dortmund. Diesen Prozess im eigenen Haus abzubilden, würde den Prozess bis zum Wiedereinsatz des Werkzeugs auch deutlich beschleunigen. Zudem steigert dies die Fertigungstiefe der KMU und erhöht ihre Wettbewerbsfähigkeit.

Antje Stohl (Technikkommunikation; frankfurtPR)

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