Drehen auf eine neue Art: Y-Achsen-Drehen
Das berühmte Zitat „Genie besteht zu 1% aus Inspiration und 99% aus Transpiration“ wird oft dem Erfinder Thomas Edison zugeschrieben. Andere behaupten jedoch, dass es die US-amerikanische Autorin Kate Sanborn war, die diesen weisen Satz geprägt hat. Unabhängig davon, von wem er stammt, trifft er auf viele Erfinder zu, denn Innovation ist selten ein Moment der Erleuchtung. Per-Anders Stjernstedt, leitender Ingenieur beim Zerspanungsspezialisten Sandvik Coromant, weiß nur zu gut, dass Innovation eine Frage der Hingabe ist und erläutert dies am Beispiel der jüngsten Innovation im Bereich Drehen.
Wie jeder Erfinder stand auch Sandvik Coromant am Anfang vor einer Herausforderung. Wie können Werkzeuge Verzögerungen verhindern, Ausfallzeiten reduzieren und eine schnellere Fertigung unterstützen? Der Bericht True Cost of Downtime 2022 des Softwareunternehmens Senseye zeigt, dass ungeplante Ausfallzeiten Unternehmen heute mindestens 50% mehr kosten als im Zeitraum 2019-2020. Derselbe Bericht geht davon aus, dass ungeplante Ausfallzeiten die Fortune Global 500 Industrieunternehmen im Jahr 2023 fast 1,5 Billionen US-Dollar bzw. 11% ihres Umsatzes kosten werden.
Um Werkzeugwechselzeiten zu reduzieren, die Prozessstabilität zu verbessern und den Werkzeugverschleiß zu verringern, müssen Fertigungsunternehmen in der Lage sein, unterschiedliche Konturen mit einem einzigen Werkzeug zu bearbeiten und dies ist die Hauptidee des neuen Y-Achsen-Drehens.
Die Drehwinkel
In einem ersten Schritt ist es sinnvoll, sich Gedanken über den Einstellwinkel zu machen. Die Wahl des richtigen Winkels zwischen Schneide und Vorschubrichtung ist für eine erfolgreiche Drehbearbeitung von entscheidender Bedeutung, da er die Spanbildung, die Richtung der Schnittkräfte und die Länge der Schneide im Schnitt beeinflusst. Ein größerer Winkel als erforderlich führt zu einer instabilen Schneidkante. Ein zu kleiner Winkel kann dazu führen, dass das Werkzeug bei hohen Vorschubgeschwindigkeiten reibt und schließlich bricht.
Im Jahr 2017 entwickelte Sandvik Coromant PrimeTurning™, ein Drehkonzept, das das „Drehen in alle Richtungen“ für mehr Flexibilität bei der Bearbeitung ermöglicht. PrimeTurning basiert darauf, dass das Werkzeug am Spannfutter in das Werkstück eintaucht und auf dem Weg zum Werkstückende Material abträgt. Dies ermöglicht die Anwendung eines kleinen Einstellwinkels, eines größeren Steigungswinkels und die Bearbeitung mit höheren Schnittparametern.
PrimeTurning ist eine echte Innovation für die Drehbearbeitung. Neben der Produktivitätssteigerung durch die Spankontrolle wollte Sandvik Coromant den Fertigungsunternehmen nun aber auch helfen, komplexere und innovativere Formen zu bearbeiten. PrimeTurning war daher nur einer von mehreren Bausteinen, die zur Entwicklung des Drehens entlang der Y-Achse führten.
Eintritt auf der Y-Achse
Wie funktioniert das Y-Achsen-Drehen? Wie der Name schon sagt, wird bei diesem neuen Verfahren insbesondere die Y-Achse genutzt, wobei während der Bearbeitung alle drei Achsen gleichzeitig verwendet werden. Dabei dreht sich das Werkzeug um seinen Mittelpunkt, die Wendeschneidplatte wird für die Bearbeitung in der Y-Z-Ebene positioniert und die Frässpindelachse interpoliert während des Drehens. Auf diese Weise können komplexe Formen mit einem einzigen Werkzeug gefertigt werden.
Und es gibt viele Vorteile beim Drehen entlang der Y-Achse. Die Möglichkeit, unterschiedliche Konturen mit nur einem Werkzeug zu bearbeiten, verkürzt die Bearbeitungszeit. Die Tatsache, dass kein Werkzeugwechsel erforderlich ist, minimiert das Risiko von Unebenheiten zwischen benachbarten bearbeiteten Flächen. Zudem werden die Hauptschnittkräfte in die Maschinenspindel geleitet, was die Stabilität erhöht und die Gefahr von Vibrationen verringert. Zur Verbesserung der Oberflächengüte sind die eingesetzten Wiper-Wendeschneidplatten so konstruiert, dass die Wiper-Schneide sich am Übergang von der geraden Schneidkante zum Eckenradius befindet.
Das Verfahren trägt ebenfalls dazu bei, die Spandicke konstant zu halten, sei es beim Drehen mit konstanter Schnitttiefe oder beim Konturdrehen. Da sich die Spanbreite nicht verändert, wird das Risiko eines Spänestaus deutlich reduziert. Dies führt nicht nur zu zuverlässigeren Bearbeitungsprozessen, sondern auch zu der Gewissheit, dass die Drehbearbeitung ohne Störungen abläuft. Dies wiederum könnte Unternehmen in die Lage versetzen, ihre Maschinen unbeaufsichtigt laufen zu lassen.
Der Erfinder
Per-Anders ist leitender Ingenieur bei Sandvik Coromant in Gävle, Schweden. Er arbeitet seit über zehn Jahren für das Unternehmen und war an der Entwicklung mehrerer Innovationen beteiligt. Am stolzesten ist er auf das Drehen entlang der Y-Achse.
„In den letzten fünf Jahren habe ich fünf weltweit anerkannte Patente entwickelt und im vergangenen Jahr zwölf Innovationsmeldungen eingereicht. Aber das Y-Achsen-Drehen war ein echter Karrierehöhepunkt für mich“, sagt Stjernstedt. “Ich glaube, ich war schon immer ein Erfinder. Schon als kleiner Junge habe ich in der Garage meines Vaters herumgetüftelt und mit den verschiedensten Dingen experimentiert. Da gab es Surfbretter, Motorradrahmen und -halterungen, und als ich die Kameraausrüstung meiner Eltern für einen Tauchausflug ausleihen wollte, baute ich mir Unterwassergehäuse, um meine Expeditionen zu filmen.“
„Trotz meines kreativen Geistes ist mir aber keiner meiner technischen Erfolge über Nacht gelungen. Im Fall des Drehens entlang der Y-Achse haben das Team und ich einen sechsjährigen Forschungs- und Entwicklungszyklus durchlaufen, bevor uns der große Durchbruch gelang.“
Die Zukunft gestalten
Die Entwicklung des Y-Achsen-Drehens war eine Herzensangelegenheit: „Als das Team begann, hatten wir eine Idee, die der Markt noch nicht gesehen hatte. Es dauerte zwar eine Weile, bis wir beweisen konnten, dass unsere Pläne realisierbar waren, aber nach einer Reihe interner Tests konnten wir bereits feststellen, dass das Y-Achsen-Drehen die Durchlaufzeiten im Vergleich zu konkurrierenden Methoden um 51% verkürzte“, erklärt Stjernstedt.
Ergänzend zum Drehen mit der Y-Achse hat Sandvik Coromant eine neue Version von CoroTurn® Prime entwickelt. Diese eignet sich für Wellen, Flansche und Bauteile mit Hinterschnitt. Darüber hinaus gibt es das Doppelwerkzeug CoroPlex® YT, das mit CoroTurn TR Profildrehplatten bestückt ist und vorzugsweise mit einem Einstellwinkel zwischen 60 und 90 Grad für eine effizientere und produktivere Bearbeitung eingesetzt wird.
Rückblickend auf seine Karriere sagt Stjernstedt: „Mein Rat an alle, die eine große Idee haben: Einfach anfangen. Wenn man eine Herausforderung erkennt, für die es noch keine Lösung gibt, hat man schon die Hälfte geschafft. Ich habe das Glück, dass Sandvik Coromant mir die Freiheit gibt, zu experimentieren und bei der Arbeit zu lernen. Als Ingenieur braucht man nicht nur technisches Wissen, um neue Produkte zu entwickeln. Man muss ein kreativer Denker und Problemlöser sein und darf sich nicht scheuen, den Status quo in Frage zu stellen.“
Fazit
Wer auch immer gesagt hat, dass Genialität zu 1% aus Inspiration und zu 99% aus Transpiration besteht, hatte nicht Unrecht. Technisches Können und die Fähigkeit, neue Lösungen zu entwickeln, sind von entscheidender Bedeutung, aber die meisten Erfindungen sind das Ergebnis harter Arbeit. Auch Per-Anders Stjernstedt und sein Team hätten ohne Hingabe, Geduld und die Entschlossenheit, das Drehen neu zu definieren, keinen Erfolg gehabt.